Von der Raummöglichkeit zum Möglichkeitsraum
Selten aber doch passiert es, dass man mit einem Menschen dieses Haus betritt, der es bis dahin ausschließlich in seiner Erstverwendung kannte: als Spital. Unlängst hatte ich die Gelegenheit, jemanden durchs Haus zu führen, der es zuletzt als Patient betreten hatte. Er meinte, einen unliebsamen Krankenhausgeruch wiederzuerkennen, worauf ich vehement widersprechen musste: Dieses Haus riecht doch beileibe nicht nach Spital! Hier riecht es nach Freiheit, nach Kreativität und nach Kultur. Die Luft in diesem Haus ist voller Ideen und Möglichkeiten. Zugegeben, olfaktorisch gemahnen diese Möglichkeiten zuweilen an Baustelle. Und das ist hier ganz wörtlich gemeint – Schutt, Staub und Sägespäne sind schließlich wiederkehrende Begleiter in der Geschichte dieses Offenen Kulturhauses.
Denn zuallererst musste Staub aufgewirbelt werden, als die freie Vöcklabrucker Kulturszene auf einer langen Herbergssuche das Alte Krankenhaus beinahe als Raummöglichkeit verlor: Lokale Kulturtäter:innen zogen alsdann in einem Fußmarsch der Maroden durch die Straßen der Kleinstadt, um den Verkauf des leerstehenden Spitals, für dessen künftige Nutzung sich bereits verschiedene Kulturinitiativen zusammengeschlossen hatten und ein Konzept vorgelegt hatten, zu verhindern. Diese Kunstaktion zur Genesung der Kulturstadt im September 2010 erregte die nötige Aufmerksamkeit und sollte schließlich dazu führen, dass das Gebäude durch eine erfolgreiche Bausteinaktion mit 20.000 Euro minimaladaptiert wurde. Nicht inkludiert in dieser Summe sind freilich unzählige Arbeitsstunden, die quer durch alle Aufgabengebiete in dieses Haus schon vor seiner Eröffnung investiert wurden. Erst einmal wollte das der Bausteinaktion vorangegangene Konzept gut durchdacht sein. Und dann sollte man richtig handgreiflich werden: Schutt und Schrott wegschaffen, Wände einreißen, neue aufziehen, färbeln, putzen, einrichten, und so weiter. Die allermeiste Zeit davon: ehrenamtlich. Unzählige Stunden. Wie der Patient am Infusionstropf hing dieses Gebäude am Tropf der ehrenamtlichen Kulturarbeiter:innen, die überlebenssichernde Maßnahmen in Form von Instandsetzung ergriffen.
Man hatte sich kaum den Schweiß von der Stirn gewischt, als das Haus im Mai 2012 schließlich eröffnet wurde. Die Vereinsmitglieder waren auf einmal nicht mehr Hakler, die ein zuvor vom Abriss bedrohtes Gebäude mit vereinten Leibeskräften instandgesetzt hatten – plötzlich waren sie Gastgeber:innen, die sich unglaublich freuten, dass man diese Räume tatsächlich betreten konnte. Dass tatsächlich Leute kamen, die sich anlehnten an Wände, die man mit den eigenen Händen erst unlängst gestrichen hatte. Die sich auf Sessel setzten, die man in der Woche davor beim Trödler ergattert und liebevoll positioniert hatte. Echte Leute, echte Besucher:innen dieses neuen Offenen Kulturhauses, die durch eine Tür gingen, die bis vor kurzem noch verschlossen gewesen war. Die sich ein Getränk ausschenken ließen, als wäre das hier das Normalste der Welt. Als nach 20 Jahren die dringende Raumnot der freien Vöcklabrucker Kulturszene ein Ende hatte und mit dem OKH tatsächlich so etwas wie eine urbane Insel in dieser Kleinstadt entstanden war, hatte man mitunter das Gefühl, es wäre alles nur ein Traum.
So musste der Verein zu Beginn des OKH-Betriebs erst in ein Selbstverständnis finden, das – nach dieser langen Zeit des beständigen Kämpfens – nicht nur die Instandsetzung und das Zur-Verfügung-Stellen von Infrastruktur (a.k.a. den Baustellenbetrieb) beinhaltete, sondern den Veranstaltungsbetrieb selbst inkludierte. Das regelmäßige Veranstalten von Konzerten sollte als erstes das Programm strukturieren und das OKH als Veranstaltungsstätte etablieren. Relativ rasch stellte sich heraus: Diese Leute haben einen guten Riecher. Bis heute ist es so, dass die Konzertgruppe des Vereins viele aufsteigende Musiker:innen einlädt, deren Potenziale früh erkennt und so für ein Musikprogramm sorgt, das seinesgleichen sucht – durchaus über Genregrenzen hinweg. Auch die Literaturschiene beweist immer wieder beinah hellseherische Fähigkeiten in der Gestaltung des Programms, in dem sich Literaturpreisträger:innen genauso finden wie Newcomer:innen der Literaturszene. Gleichzeitig kommen etablierte Künstler:innen und Vortragende unterschiedlichster Sparten immer wieder gerne nach Vöcklabruck – der gute Ruf eilt dem Haus inzwischen voraus.
Dieser Ruf ist vor allem dem professionellen Betrieb geschuldet, der sich aus den hohen Ansprüchen speist, die Mitarbeiter:innen und Vereinsmitglieder an ihre Arbeit stellen. Wenn im OKH etwas geschieht, so gilt von allen Seiten die Devise: Wir machen es auf die beste mögliche Art. Das beinhaltet die Gestaltung und Erschließung von neuen Räumen im Haus und deren inhaltliche Bespielung genauso wie die Repräsentation nach außen in Form von Medienarbeit und Grafik und nach innen als Pflege der Community. Halbherzigkeit ausgeschlossen – hier wird mit Sorgfalt und Liebe zum Detail gewerkt und die Menschen, die hinter dem OKH stehen, tun dies als Arbeitsgemeinschaft für ein gemeinsames Ziel. Bemerkenswert daran ist, wie verlässlich und beständig diese Arbeitsgemeinschaft sich hält: Viele Personen aus dem Vereinsvorstand beispielsweise begleiten das OKH von Beginn an und tun dies weiterhin, mit ungebrochenem Enthusiasmus und vollem Einsatz, der manchmal so weit reicht, dass das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Ehrenamt atypische Formen annimmt. Man könnte seine Zeit auch mit mehr monetär entlohnter Arbeit füllen – so betrachtet stellt ehrenamtliche Arbeit wie jene für das Offene Kulturhaus ein antikapitalistisches Statement in einer von Verwertungslogik durchdrungenen Zeit dar. Dies soll nun keinesfalls als Argumentation gegen eine (faire!) Entlohnung von Kulturarbeit missverstanden werden – im Gegenteil, gerade am Beispiel des OKH lässt sich beobachten, wie wichtig die sukzessive Unterstützung ehrenamtlichen Einsatzes durch Hauptamtliche für eine nachhaltige Entwicklung und Fortführung des Kulturbetriebs ist. Dem Community Building, das auf diese Weise aktiv und professionell vorangetrieben werden kann, wird dabei ein besonders hoher Stellenwert zugewiesen – was sich offenkundig lohnt: Ein zentrales Element der erfolgreichen Arbeit, die hier geleistet wird, ist die ehrliche gegenseitige Wertschätzung, die weit über den Vereinsvorstand hinausgeht.
Jede:r kann in diesem Offenen Kulturhaus die eigenen Fähigkeiten und Ideen einbringen, und wird dabei ermutigt und unterstützt, selbst wirksam zu werden. Das reicht von der sporadischen Mitarbeit an der Bar bis hin zur Abwicklung eines Großprojekts im Haus – je nach Ressourcen und Vorstellungen werden Initiativen, Vereine und Einzelpersonen mit dem Rüstzeug ausgestattet, das sie brauchen um ihre aktive gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe zu verwirklichen. „Es wäre schön, wenn…“ wird hier zu „Wir machen jetzt…“ – ganz im Sinne der Vereinsgrundsätze, die sowohl das Wissen und die Erfahrung als auch das Haus selbst als kulturelles Gemeingut begreifen.
Dass die OKH-Crew Wert auf Professionalität und gut durchdachte Konzepte legt, hindert aber nicht daran, Neues auszuprobieren, denn das gemeinsame Ziel lautet immer auch Innovation. Selbst im Jahr 2020 bewies man neben Resilienz außerdem Kreativität und Experimentierfreude – nach einer kurzen Schockstarre der Kulturszene am Beginn der Corona-Pandemie war das Vöcklabrucker Kulturhaus eines, das sich nach kürzester Zeit aufrappelte, den Staub von den Hosen klopfte und neuen Handlungsspielraum auslotete. Über 300 Veranstaltungen waren für dieses Jahr geplant und nur ein Bruchteil ließ sich durchführen, alles unter den gegebenen Sicherheitsbestimmungen versteht sich. Der OKH-Verein reagierte schnell und war am Puls der Zeit, es dauerte nicht lang, bis man das angeeignete Wissen über Corona-konformes Veranstalten an Kolleg:innen und andere Initiativen weitergeben konnte. Die Gemeingut-Logik lässt sich auch hier wiederentdecken – Ideen und Möglichkeiten werden im OKH nicht nur gefunden, sondern bei Bedarf gerne weitergegeben. Zwar war das Veranstalten über weite Strecken der letzten eineinhalb Jahre in der Form, wie wir es kannten, überhaupt nicht möglich, doch das sorgte in Vöcklabruck nicht für Stillstand: Ob Live-Streams von Lesungen und Kinderkulturveranstaltungen, offenes Online-Büro und VR-Darstellung des Konzertsaals, oder social-distance-Vereinsessen im Lockdown – man hat selbst in dieser gerade für die Kulturszene ungewissen und schwierigen Situation binnen kürzester Zeit neue Möglichkeiten des Veranstaltens, Vernetzens und Zusammenkommens gesucht und gefunden.
Gerade letzteres – das Vernetzen und Zusammenkommen nämlich – stellt, neben allen Veranstaltungen, für die das OKH einen möglichen Raum bietet, ein wesentliches Moment dieses Ortes dar. Elementarer Teil seiner DNA ist schließlich die Regionalentwicklung – eine logische Konsequenz daraus der Zusammenschluss mit dem OTELO, das seit 2017 seinen Platz im Haus hat, sowie mit Lebensmittelkooperativen, die im Keller des OKH ihr Wirken entfalten und erfolgreich regionale Ernährungssouveränität in den Mittelpunkt stellen.
Immer noch gibt es Räume in diesem Alten Krankenhaus, die nicht erschlossen sind. Vielleicht riecht es hier bald wieder nach Baustelle? Räume, die vielfältige Potenziale bieten, Räume für die bereits gute Ideen und Pläne bestehen, so wie das 2019 umgesetzte Erfolgsprojekt Cooperation Space, ein Gemeinschaftsbüro, in dem die letzten Essay zur Verleihung des Österreichischen Kunstpreises 2021 an das OKH Vöcklabruck Zeilen dieses Textes entstehen. Spätestens in diesem Raum ließ sich mein Begleiter, der ehemalige Patient, bei der Führung durchs OKH überzeugen: Dieses Haus riecht nach Möglichkeiten. Denn das Offene Kulturhaus ist von der RAUMMÖGLICHKEIT zum MÖGLICHKEITSRAUM geworden. Und dass dieser Möglichkeitsraum nicht mehr ums Überleben kämpfen, sondern stabil bleiben soll – dafür steht die Verleihung des Kunstpreises.
Essay zur Verleihung des Österreichischen Kunstpreises 2021 an das OKH Vöcklabruck von Magdalena Stammler